Träume nicht dein Leben, halte deinen Mund
Jedes Jahr veröffentlicht Forbes eine Liste mit dem Titel 30 under 30. Sie porträtiert die erfolgreichsten Persönlichkeiten unter 30 Jahren, zu denen häufig Wissenschaftler und Unternehmer zählen. Sie alle hatten sicherlich Träume. Von diesen 30 Menschen gibt es für jede Person mindestens 10.000 weitere Menschen, die auch genau diesen Traum hatten, nur niemals dazu gekommen sind, ihn zu verwirklichen. Sei es genetische Faktoren, familiärer Hintergrund, finanzielle Instabilität oder einfach nur Pech. Sie alle hatten Träume. Für jedes erfolgreiche Unternehmen gibt es Tausend gescheiterte. Für jede erfolgreiche Schauspielerin Tausend andere, die von Casting zu Casting rennen. Für jeden erfolgreichen Schriftsteller, Tausend andere, deren Manuskript es nicht ins Verlagshaus geschafft hat. Für jeden Nobelpreisträger Tausend andere nicht-erfolgreiche Wissenschaftler. Für jede erfolgreiche Sängerin, Tausend andere, mit schöner Stimme und tollem Auftreten. Für jede erfolgreiche Bewerbung, Hundert andere, die im Papierkorb landeten.
In unserer Gesellschaft werfen wir das Rampenlicht immer auf die erfolgreichen Menschen. Die, die es geschafft haben, etwas bewegt haben. Wo bleibt das Licht für die, die es nicht schaffen? Oder, noch besser, für die, die mehrmals probieren und es trotzdem nicht schaffen?
Die Welle der „Self-Made-Millionären“, überschüttet vor allem die sozialen Plattformen mit fragwürdigen Aussagen. Das kapitalistische Mantra: Man muss nur hart arbeiten, um etwas zu erreichen brennt sich in unsere Köpfe ein wie die Stempel beim Burning von Kühen in Kanada.
Zielsetzung, Fokus und Ehrgeiz können Faktoren der erfolgreichen Umsetzung von Idee zum Ergebnis sein. Auch die nötige Leidenschaft, die richtige Planung und eine zumutende Erfahrung mögen dabei eine essentielle Rolle spielen. Kurze Notiz am Rande: Sie haben auch sehr oft das Glück auf Ihrer Seite. Es ist nämlich reiner Zufall, dass gerade Sie in diesem Haus, an diesem Ort, in diesem Land mit diesem Umfeld aufgewachsen sind. Es sind Zufälle, dass Sie sich gerade in diesem gegenwärtigen Moment befinden. Schrauben Sie ihr Ego ein wenig zurück: Natürlich mag Ambition und Tatendrang eine Rolle spielen, aber unterschätzen Sie nicht ihr Glück. Wenn im Rampenlicht stehende Menschen von ihrem Ehrgeiz und ihrer Leistung sprechen, werden Sie von der Masse gefeiert. Wenn aber jemand nicht den eigenen Traum verwirklichen konnte, wird geschwiegen.
Exkurs Reiseblogger
In diesen Passagen soll das Licht hin zu den starken Selbstporträts und oftmals sehr unrealistischen Darstellungen mancher Unternehmer gehen. Mit Unternehmer ist aus meiner Erfahrung vor allem die Welt der Reise-Influencer gemeint:
Reiseblogger werfen mit Kalendersprüchen wie Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum um sich. Mit vorgehaltenem Handy präsentieren sie sich unter den Palmen von Thailand, in einer Villa auf Bali oder bei einer Trekking Tour durch den Urwald Venezuelas. Man müsse doch nur den Rucksack packen, alles hinter sich lassen, sich selbst neu erfinden.
Was für ein realitätsfernes Konzept.
Von familiärer Herkunft, finanziellen Hinderungen oder körperlichen Einschränkungen ist dabei jedoch selten die Rede. Das Hauptpublikum von Reiseblogger sind ähnliche Gefährten: weiß und aus der Mittelklasse stammende Laute, zu privilegiert, um zu entschieden wohin es als nächstes gehen soll und gefangen in einem Nest voller Möglichkeiten. Man wird schon müde, weil man nicht weiß, welches Bucket-List-Land man als nächstes abhacken soll. Die teilweise stark narzisstische Abbildung einer Rucksackreise findet in der Realität folgendermaßen statt: Eine leere Klippenbucht in Indonesien (Spoiler, ganz und gar nicht leer), Drohnenaufnahmen von zutiefst glücklichen Menschen auf Berggipfeln dieses Planeten, luxuriöses Essen und Partynächte länger als der Tag Stunden hat. Nichts für ungut, Reisen mag spannend, aufregend und bereichernd sein. Nichtsdestotrotz kann eben nicht jeder Menschen einfach so die Taschen packen. Es ist für einige de facto unmöglich einfach so alleine abzuhauen. Sag einer alleinerziehenden Mutter, sie soll doch einfach alles hinter sich lassen und sich mit ihrem Laptop selbstständig machen, damit sie ihr „Online-Business“ einfach vom Strand in Thailand aus erledigen soll. Sag einer Person mit Depressionen, dass sie doch einfach aus ihrem Bett hüpfen soll und „endlich selbst die Zügel in die Hand nehmen soll, um ihre Träume zu erreichen“. Sag einem Mann, der aufgrund einer chronischen Erkrankung im Rollstuhl sitzt, er soll sich doch einfach ein Flugticket nach Bali kaufen, um „einfach mal die Seele baumeln zu lassen“ oder noch besser „um ein Mediation und Yoga Retreats zu erleben“. Juhu, da hat er sicherlich Spaß.
Die Autoren von Reiseblogs sind meistens reiselustige Menschen. Ganz oft zeigen sich Paare aus Deutschland oder anderen reichen westlichen Ländern auf diversen Social-Media-Plattformen als Reiseblogger: weiß, Mitte 20 bis Ende 30 und seit einigen Jahren auf Weltreise. Sie berichten von ihren Erfahrungen, teilen mit ihren Followern Tipps und wie sie es geschafft haben oder bitten um finanzielle Unterstützung wie Spenden oder Abonnements. Eigentlich etwas Gutes: Man kann sich von Ländern oder Destinationen ein Bild machen, gelangt schnell an Insider-Informationen und Ratschlägen. Die Texte sind oft verziert mit Bildern von Vulkanen, vor Tempeln oder heiligen Statuen. Sie teilen ihre Berichte mit ihren Abonnenten und nehmen sie auf ihren Reisen mit. Während einer längeren Reise fiel mir auf, wie alles einfach darauf ausgelegt ist, genau diese "Insider-Tipps" zu erleben. In Zeiten von Social Media werden Inhalte einem Millionenpublikum geteilt, welches verzweifelt nach Glück, Anerkennung, Verständnis oder Orientierung sucht.
Obwohl Reiseblogs hilfreich sein können, bringen sie einige Effekte mit: Es kann zu Beginn einer Reise zu einer euphorischen Einstellung kommen, welche sich in einen Art rastlosen Dauertrip verwandelt. Man will alles sehen, alles erleben, am besten noch so günstig wie möglich. Alle positiven Emotionen fühlen. Dabei ertappt man sich das ein oder andere Mal selbst und findet sich in einer Art Automatismus wider: Erzählungen von anderen Reisenden über diese Sehenswürdigkeit und jene Trekking-Tour weckt in einem Spannung aus. Das muss man auch erleben, besichtigen, erkunden. Obwohl man nicht immer diese Ziele, vielleicht sogar dieses Träume vor Augen hat, spricht eine innere Stimme mit einem. Eine Art Forderung, gewisse Dinge dann doch zu tun. Obwohl es nicht unbedingt dem Budget entspricht, der Reiz nicht hundert Prozent gegeben ist, will man dort hin oder etwas erleben. Diese lächerlich privilegierte Situation einer Reisenden wird vielleicht nur im Inneren wichtig gemacht und dennoch frage ich: Für wen reist man? Für wen träumt man?
Kurz vorab: Beim Reisen findet man nichts, aber dazu später mehr…
Zufälle
Zurück zu den eigenen Träumen: Wenn wir unsere Träume einmal vor Augen führen, wie sehr ähneln sie dem Umfeld? Haben wir Träume, weil wir sie uns kreiert haben oder träumen wir von Dingen, die jemand eben nicht erreicht hat und wir es besser machen sollen? Beim Reisen sieht das ungefähr so aus: Ich will ins Land A, weil ich mich dafür interessiere. Die Kultur ist anderes als die in meinem Heimatland und das Interesse hierfür war schon immer gegeben. Ich will ins Land B weil es im Umfeld als interessant angesehen wird, weil es exotisch oder unbekannt oder noch nie bereist oder eben schon bereist wurde und dafür noch interessanter oder alles zusammen ist? Ich will dorthin, um dann wiederum selbst Erfahrungen zu machen um diese auf dem Silbertablett den anderen zu erzählen. Ich will diese Sehenswürdigkeit ansehen und diese Spezialität probieren, will auf diesen Berg und in dieses Gotteshaus, will auf dieser Promenade entlanggehen und diese Statue besichtigen. Ich will erleben, um zu erzählen. Will ich denn wirklich dorthin?
Viel zu oft leben wir Träume unseres Umfelds. Wir wollen diese leben, weil wir wissen, dass die anderen sie eben nicht erreichen werden. Oder weil wir uns selbst oder anderen eine Gefallen machen wollen. Wir träumen oftmals für unser eigenes Ego, wie wir erfolgreich oder beliebt oder reich oder schön sind. Wer aber entscheidet, welche Träume wir leben? Wirklich wir? Man kann sich sehr leicht im Labyrinth der Möglichkeiten verirren. Dinge werden erreicht, damit man sagen kann, dass man sie erreicht hat. Erlebnisse werden erlebt, um später in der Runde davon zu berichten. Obwohl Austausch essentiell ist, wird das Berichten als größerer Motivationsfaktor gesehen, wie das eigentliche wahre Erleben. Ohne mich da manchmal rauszunehmen.
Ein kleiner Denkanstoß: Wann haben Sie zuletzt geträumt? Wenn keiner zusieht, was machen Sie am liebsten? Wenn Sie am Morgen aufwachen, worauf freuen Sie sich?
Und außerdem: Sie hatten oft Glück auf ihrer Seite und manchmal eben Pech, so ist das Leben. Akzeptieren Sie diese Tatsache und schätzen Sie alle Erfahrungen.