Der Influencer-Bahnhof: Warum man nicht auf den Zug der Authentizität aufspringen muss

Lena nimmt ihr Handy in die Hand. Der Unterricht ist langweilig. Sie werde Differentialgleichungen nie im Leben brauchen, denkt sie sich. Sie klickt auf Instagram und wird übersäht von Urlaubsfotos, Partyschnappschüssen und Katzenbildern. Sie klickt sich durch die Storys: Ihre Freundin postete vor zwei Stunden ein Foto des Sonnenaufgangs. Die Dächer sind gezuckert mit Schnee. Darunter hielt sie fest, dass Weihnachten vor der Tür steht. Ein Freund stellte ein Bild mit seiner neuen Freundin am Christkindlmarkt als Story Beitrag auf die Plattform. Die nächste Story stammt von einer deutschen Fitnessinfluencerin. Einmal trainiert die Sportfee im Home-Gym, dann ein Schnappschuss ihres Frühstücks, ein Haferbrei mit Erdnussmus und frischen Beeren. Im nächsten Bild steht sie vor einem Spiegel und fotografiert ihren aufgeblähten Bauch. Er sei durch das Essen etwas runder geworden und das sei normal, schreibt sie dazu. #authenticity. Dann folgt ein weiterer Beitrag in Ihrer Story: Sie steht vor dem Spiegel und schminkt sich mit ihrer neuen Foundation. „Die deckt alle Unreinheiten ab, die mag ich so so so gern!“ Einen Rabattcode für ihre Abonnenten hat sie natürlich auch, die fleißig das Produkt kaufen sollen, damit sie von Provisionen profitiert. Im nächsten Beitrag spricht sie von ihrer Unsicherheiten bezüglich ihrer Nase. Dann folgt ein Foto von ihren Hund, ihrer To-Do-Liste und ihrem Mittagessen. Am Abend erzählt sie ihren Zusehern von ihrem Albtraum letzte Nacht. Lena wird von der Lehrerin ermahnt und schließt die Applikation wieder, das Handy landet in der Schultasche.

Der Drang zu teilen

Offensichtlich gibt es ein sehr großes Bedürfnis danach, die eigene Gefühlswelt der Welt mitzuteilen. Emotionen bringen mehr Klicks. Man könnte schließlich sonst von der Bildfläche verschwinden. In Zeiten des immensen digitalen Medienangebots, von sozialen Plattformen bis zur News-App am Handy stehen Emotionen als Köder für Aufmerksamkeit an vorderster Stelle. Warum wohl haben es Boulevardmedien häufiger leichter als Qualitätsjournalismus? Vor allem auf Social Media wird ein persönliches Verhältnis von Influencer und Zuschauer aufrecht erhalten. So entsteht eine emotionale Bindung; die Follower interessieren sich für das Leben und Wirken der Influencerin oder des Influencers. Es wird viel erzählt, geteilt und es werden auch vermehrt alltägliche Dinge präsentiert. Man soll ja nahbar wirken. Jeder teilt mit, was ihm in den Sinn kommt, und jeder bleibt so, wie er ist. Eine kleine Randbemerkung: Letztendlich wird nur das präsentiert, was man zur Aufrechterhaltung der Persona auch zeigen möchte, reine Öffentlichkeitsarbeit also.

Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Sie sind mit einem Influencer zum Lunch verabredet. Mit zwanzigminütiger Verspätung betritt er das Restaurant, während er eine Sprachnachricht von einer Freundin abhört. Er blickt auf und geht auf sie zu, sichtlich genervt. Während er zu Ihren Tisch schlendert, beantwortet er noch die Nachricht der Freundin. “Tut mir leid, der Verkehr war ein Albtraum”, sagt er aufgeregt. Im Stehen nimmt er das Pain du jour und stopft es in sich hinein. Er kommt gerade vom Gym und brauche jetzt Carbs. Mit vollem Mund erzählt er von seiner Fitness-Einheit in dieser „mega hippigen Wellnessoase“. Er trainierte und „produzierte Content“ für TikTok. In der Vorweihnachtszeit wollen alle immer so viel von ihm, da wird ihm das gerne mal zu viel. Er muss heute auch noch zur Pediküre und später zur Psychotherapeutin, um sein Kindheitstrauma zu verarbeiten. Er befindet sich im Stress. Sie schauen ihn an. Er teile mir das mit, weil er „endlich einen offeneren Umgang mit mental health haben will.” Er schaut sich kurz die Speisekarte an und winkt den Kellner rüber, um sich über die rudimentäre Ausfall veganer Optionen zu beschweren. Er sei Flexiganer. Der Kellner schaut Sie an, Sie lächeln. Während dem Essen schaut er immer wieder auf sein Mobiltelefon, um genau zu sein hat er zwei mit. Er erzählt von seiner Lebensmittelvergiftung auf Bali, wie er dadurch seinen Lunch zweimal gesehen hat und wie es für ihm war. Dann ging er auf den immensen Druck ein, die die Weihnachtszeit mit sich bringt.

Authentizität mag in einer Welt, in der Profit daraus geschlagen wird, funktionieren. Denken Sie aber nicht, sie müssen jeder Person von Ihren Kindheitswunden erzählen. Suchen Sie sich Ihren Beratungskreis selbst aus: Das kann die Partnerin sein, der Freund oder die Schwester sein. Aber springen Sie nicht auf den Zug des Plappern aufs. Die Tragödie der Authentizität ist vor allem in der Welt von Social Media häufig verbreitet. Die schillernde Partystory vom Samstagabend muss nicht am Montagmorgen im Büro erzählt werden. Ihr Postbote interessiert sich nicht für Ihr Trauma in der Kindheit, Ihr Nachbar muss nicht all Ihre Affären beim Name nennen können. Behalten Sie sich einige Dinge für sich oder besprechen Sie sie mit Menschen, denen Sie zu 100 Prozent vertrauen. Authentische Menschen müssen nicht erwähnen, dass sie authentisch sind. Sie sind es einfach.

Regina Mader

Regina Mader

schreibt und liest gerne. In ihrer Freizeit geht sie wandern und laufen. Aufgrund ihres derzeitigen Wohnortes fällt die Zahl der potenziellen Bergtouren spärlich aus. Das Einzige, was erklimmt werden kann, ist der Bisamberg oder das Riesenrad. Letzteres ist mehr schlecht als recht. Dafür gibt es in Wien schöne Gebäude. Sie kreierte Salty Mountain, um Gedanken loszuwerden und Denkanstöße zu schaffen.

https://www.saltymountainclub.com/
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