Das Zwiebel-Prinzip: Warum wir uns schälen müssen, um zum Kern zu kommen
Denken Sie an eine Zwiebel. Am besten an eine rote Zwiebel. Sie besitzt eine etwas glänzende Schale, die hauchdünn an der Oberfläche der Zwiebel anliegt. Unter der Schale gibt es wiederum Schichten: Erst eine etwas dickere, dann eine weitere, eine darauffolgende und so weiter. Man kann eine Zwiebel auch der Länge nach durchschneiden, um das Schichtphänomen zu betrachten. Der süße Geschmack einer Zwiebel liegt im Kern.
Übertragen Sie dieses Phänomen auf Ihr Leben: Stellen Sie sich vor, es ist Herbst. Die Blätter an den Bäumen werden braun, der Himmel ist blau und Schulkinder drängeln sich am Gehsteig. Das Wetter an solchen Herbsttagen ist undogmatisch. Wenn Sie am Morgen, wenn Sie das Haus verlassen, brauchen Sie einen Mantel und einen Schal. Der Nebel liegt zwischen den Häusern wie Zuckerwatte am Holzstäbchen. Zu Mittag kommt die Sonne hervor, der Himmel verwandelt sich in ein klares Blau. Sie verbringen die Mittagspause auf der Terrasse mit hinaufgekrempeltem Hemd. Am Nachmittag wird es etwas düsterer, Sie ziehen Ihren Mantel und den Schal wieder an. Am Weg nachhause zwickt der kalte Wind wie Schmirgelpapier auf Ihrer Haut, zwischendurch gibt es ein paar Regentropfen, Ihre Hände sind kalt.
Der Kleidungsstil im Herbst wird oft vom Zwiebellook geprägt. Dabei werden Kleidungsstücke angezogen, um bei Bedarf, also falls es wärmer wird, wieder ausgezogen zu werden. Dieses Prinzip der Schichtreduktion an die Umwelt kann genauso auf Ihr Leben übertragen werden: Sie nehmen mit, was Sie haben und nehmen dann Schicht für Schicht ab. Das Zwiebelprinzip ist ein Erklärungsversuch für Entwicklungsschritte: Sie legen ab, was Sie nicht brauchen, um dorthin zu gelangen, wo Sie sein möchten. Einfach erklärt: Entfernen Sie Dinge in Ihrem Leben, die Sie nicht weiterbringen. Das können Gewohnheiten, Menschen, Jobs, Statussymbole, Denkmuster oder Dogmen sein. So können Sie zu dieser Person mutieren, die Sie anstreben zu sein. Ein Beispiel: Ein Freund von mir war jahrelanger Raucher. Vor drei Jahren hörte er schließlich endgültig auf. Das Aufhören war nicht einfach und er wurde ein paarmal rückfällig. Aber er zog dieses Vorhaben durch. Seitdem brachte er einige Steine ins Rollen: Er konnte durch seine verbesserte Kondition seine sportlichen Ziele als Bergläufer und Radfahrer viel schneller erreichen. Er konnte sich seine Routine neu zusammenstellen. Vor Kurzem erzählte er mir, dass das Bild mit Zigarette in seiner Hand in seinem Kopf gar nicht mehr existiert. Neben ihm könnten 100 Menschen rauchen, ihm interessiert es nicht. Er sei nicht mehr darauf angewiesen. Ein schönes Ergebnis des Reduzierens.
Man weiß nicht, was den Menschen glücklich macht. Einige meinen, es sei finanzieller Erfolg, andere stabile zwischenmenschliche Beziehungen. Was man allerdings weiß, sind die Dinge, die einen auf längere Zeit nicht glücklich machen: chronischer Stress, Alkoholismus, Krankheit, toxische Beziehungen, Selbstmitleid, Neid, Kummer und finanzielle Instabilität sind nur ein paar davon. Vielleicht also den Fokus auf die Reduktion legen. Das Rauchen hat jenen Freund lange Zeit wie gespannte Zügel eines Pferdes zurückgehalten. Indem er diese Gewohnheit ablegte, gelang es ihm viel schneller, seine ehrlichen Vorlieben nachzugehen. Anstatt sich in der Mittagspause eine Zigarette anzuzünden, macht er nun einen Spaziergang.
Indem man Altes ablegt, kommt man zu den Dingen, die einen wirklich ausmachen, zum Kern also. Wichtig dabei ist Ehrlichkeit. Anstatt Zusatz ist das Mantra Reduktion. Was muss weg, was darf bleiben? Das ist ein Prozess und wird sich nicht von alleine starten. Die Handlung muss man durchführen.
Wenn Sie das nächste Mal eine Zwiebel sehen, denken Sie an das Schälen selbst, eine Schicht nach der anderen ablegen. Es braucht Stärke, um alte Gewohnheiten, Menschen die einen nichts sagen und Strukturen im Leben hinter sich zu lassen. Denken Sie doch an den Herbst: Wie schmerzhaft es ist, an einem sonnigen Herbsttag auf der Terrasse zu sitzen, eingehüllt in Wintermantel, Schal und Mütze, während die Sonne die Haut wärmen könnte.