8000 Kilometer in drei Tagen
26. Februar 2024, Sharjah, Vereinigte Arabische Emirate, 11 Uhr:
Es ist ein Montagmorgen und draußen weht der Wind. Das Gebäude ist kalt, obwohl draußen warme Temperaturen herrschen. Es ist kalt, weil hier niemand bleiben will. Ich sitze am Flughafen Sharjah, in den Vereinigten Arabischen Emirate. Die Halle wirkt leer und grau, während kleinere Maschinen auf dem Rollfeld verweilen und sich der Nebel langsam niederlegt. Vor knapp 24 Stunden startete meine Heimreise. Mit dem Bus ging es von Weligama nach Colombo. Sri Lanka hatte die Atmosphäre eines baldigen Endes, wie eine Beziehung, die durch kleine Risse an der Fassade einen kalten Luftzug bekommt. Man verspürt Wehmut, Nostalgie, Aufregung, Müdigkeit und Erschöpfung, Zukunftsangst und Zweifel, aber auch etwas Klarheit, Zufriedenheit, Erleichterung, Ruhe. Auf dem Weg nach Colombo regnete es, der Bus war überfüllt. Mein Sitznachbar bot mir scharfe Teigtaschen mit Ei an. Wir aßen und schwiegen. Er schaute aus dem Fenster fing an, zu weinen. 8000 Kilometer. Wird irgendwie länger, als gedacht. Nach acht Monaten geht es nachhause. Das Bankkonto wurde leer
Ceylon
Mit seinen 22 Millionen Einwohnern zählt der früher als Ceylon bezeichnete Inselstaat Sri Lanka zu einem Knotenpunkt zwischen Vorder- und Südostasien. Vor allem für seine Zimt-, Tee- und Kaffeeproduktion ist Sri Lanka ein bekannter Begriff. Die Hauptstadt Colombo zählt mit seinen 750.000 Einwohnern zu der größten Stadt. 70 Prozent der Bevölkerung ordnet sich dem Buddhismus zu, 12 Prozent sind Hindus, knapp 10 Prozent ist muslimisch und fast 8 Prozent christlich.
Sri Lanka feiert am 4. Februar seine Unabhängigkeit. Über zwei Jahrtausende wurde es von verschiedenen lokalen Königreichen regiert. Zuerst herrschten die Portugiesen, danach kolonisierten die Niederländer das Land. Nur das Königreich Kandy im Hochland der Insel konnte sich gegen die Kolonisatoren behaupten. 1815 wurde ganz Sri Lanka Teil des Britischen Weltreichs. Während des Zweiten Weltkriegs diente Sri Lanka den Alliierten als eine strategisch wichtige Basis im Kampf gegen das japanische Kaiserreich. 1948 folgte jedoch die Unabhängigkeit Sri Lankas. Sri Lanka ist Teil des Commonwealth of Nations.
Weligama, ein einst kleines Fischerdörfchen verwandelt sich seit einigen Jahren in eine kleine Touristenoase. In den Nebenörtchen sprießen Cafés und Hostels aus dem Boden wie Krokusse im Frühling. Der Ruf von sanften Wellen (mit dem ein oder anderen auftauchenden Krokodil), der Yoga- und Spiritualität-Boom, die unzähligen Nationalparks, die Kulinarik und die Tempel schleudern Touristen an Land wie frische Fische bei Ebbe. Die Singalesen sind zuvorkommend, äußerst freundlich, traditionell und ruhend.
Sri Lanka erholt sich derzeit noch von der schwersten Wirtschaftskrise seit seiner Unabhängigkeit. Gründe hierfür ist die Misswirtschaft der Regierung des damaligen Präsidenten Gotabaya Rajapaksa. Falsche Versprechen und Korruption sorgten für eine extreme Güterknappheit, das Land war buchstäblich bankrott. Verbindlichkeiten konnten nicht erstattet werden, das Land hatte kein Geld für importierte Güter wie Benzin, Medikamente, Strom oder Gas. Vor allem die Menschen am Land litten enorm darunter. Das Land befand sich auch aufgrund der Pandemie im Krisenmodus. Der Tourismus fiel komplett weg, die Menschen hatten keine Arbeit, keine Einnahmen. Zigaretten werden einzeln verkauft, sie gelten als eines der teuersten Dinge auf der Insel.
Die Flüge Richtung Westen werden von Sri Lanka aus oft mit einem Transferaufenthalt im Mittleren Osten durchgeführt. Der erste Halt ist Sharjah, die drittgrößte Stadt in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Diese Stadt wird als eine sehr traditionell-konservative Stadt wahrgenommen. Die Vereinigten Arabischen Emirate setzen sich aus sieben Emiraten zusammen: Abu Dhabi, Dubai, Sharjah, Ajman, Ras Al Khaimah, Umm Al-Qaiwain und Fujairah. Sie gelten als eines der am weitesten entwickelten Länder der Welt. Die Wirtschaft florierte aufgrund der Gewinnung von Öl und Gas, mittlerweile trägt aber auch der Tourismus einen großen Teil zum Reichtum des Landes bei. Die großen Städte sind für ihre guten Einkaufsmöglichkeiten und beeindruckende Skyline mit vielen Wolkenkratzern bekannt, darunter dem höchsten Gebäude der Welt: dem Burj Khalifa (828 m). Die Grenzländer sind Saudi-Arabien und der Oman. Zum großen Teil besteht das Land aus Wüste. Dubai ist die bevölkerungsreichste Stadt des Landes.
Gegensätze
Das Emirat Abu Dhabi (arabisch إمارة أبو ظبي ) ist mit 67.340 km² das flächenmäßig größte der sieben Emirate der Vereinigten Arabischen Emirate, rund 2,9 Millionen Menschen leben dort. 81 Prozent der Menschen sind keine Staatsbürger. Sie sind Unternehmer aus dem Ausland, die von extrem niedrigen Steuersätzen profitieren. Vor allem in der größten Stadt, Dubai, sind aus dem Ausland lebende Menschen die Norm statt die Ausnahme. Die VAE haben nach Katar die zweithöchste Rate an Arbeitsmigranten weltweit. 40 Prozent aller Einwohner der VAE kommen aufgrund der Arbeitsmigration allein aus Indien (28 Prozent) und Pakistan (12 Prozent). Da die Migranten überwiegend Männer sind, haben die VAE auch den weltweit zweithöchsten Anteil von Männern an der Gesamtbevölkerung. Staatsreligion ist der Islam und die Scharia ist die Hauptquelle der Gesetzgebung. Arabisch ist die Amtssprache des Landes, aber auch Englisch ist verbreitet.
Mit 3,35 Millionen Einwohnern zieht die Stadt jährlich Millionen von Touristen an. Riesige Einkaufszentren, Aquarien mit Haien und Hotelkomplexe so groß wie Dörfer. Dubai wird auch als Paradies von Unternehmer bezeichnet. Warum wohl. Zur Erinnerung: Die Vereinigten Arabischen Emirate waren bis vor mehreren Jahrzehnten ein Wüstengebiet ohne Mega-Mall und Kunstgärten. Perlenfischerei und -handel bildeten bis weit in das 20. Jahrhundert einen der wichtigsten Erwerbszweige für die damaligen Golf-Gebiete. Die Weltwirtschaftskrise 1929 und die Verbreitung von billigen Zuchtperlen aus Japan führten zum Niedergang der Perlenindustrie am Golf.
Der richtige Geldregen hatte seinen Anfang in den 1930er-Jahren, als erste Ölgebiete rund um Dubai entdeckt worden waren. Die erste Lieferung ins Ausland fand in den 1960er Jahren statt. Von da an gings bergauf. Heute zählen die VAE zu den reichsten Ländern der Welt, mit einem der höchsten Bruttoinlandsprodukte.
Was nicht zählt ist die Meinung
Die Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt und es kommt regelmäßig zu schwerwiegenden Verletzungen der Menschenrechte, vor allem gegen Frauen und Arbeitsmigranten. Vergewaltigungen werden nicht mit dem zivilen Strafrecht verfolgt, sondern wie in vielen islamischen Ländern nach dem islamischen Recht der Scharia. Das hat zur Folge, dass die Beweislast bei Vergewaltigungen beim Vergewaltigungsopfer liegt. Ohne stichhaltige Beweise kann das Vergewaltigungsopfer wegen „außerehelichem Sex“ verurteilt werden. Am 7. November 2020 teilte die Regierung mit, sie werde künftig Ehrenmord und andere sogenannte Ehrenverbrechen genauso hart wie alle anderen Verbrechen bestrafen. Das Straf- und Familienrecht werde umfassend überarbeitet.
Die Emirate zählen zu den Staaten, in denen die Todesstrafe Anwendung findet. Mit der Todesstrafe geahndete Vergehen sind u. a. das Verüben von Terroranschlägen, Ehebruch, homosexuelle Handlungen und Abkehr vom islamischen Glauben. Exekutionen wurden in den letzten zwanzig Jahren ausschließlich im Fall von Mördern bzw. einer Mörderin ausgeführt. In der Theorie ist die Exekution durch Steinigung möglich, in der Praxis erfolgt sie ausschließlich durch Erschießung. 2014 wurde eine Frau in Abu Dhabi zum Tod durch Steinigung verurteilt, das Urteil vermutlich jedoch nicht vollstreckt.
Besonders die schlechte Behandlung von Arbeitsmigranten aus anderen asiatischen Ländern brachte in den letzten Jahren immer wieder schwere Vorfälle ans Tageslicht. Das Image der VAE wird aufpoliert durch Tourismus und Steueroasen. Die Fußballweltmeisterschaft in Katar setzte Steine ins Rollen: Die Stadien sollen mit Hilfe von Tausenden von Arbeitsemigranten gebaut worden sein. Viele Arbeiter waren aus Indien, Nepal, Pakistan, Bangladesch und Philippinen. Pässe seien ihnen bei der Ankunft abgenommen worden, Arbeitszeiten bis zur Erschöpfung und begrenzte Visa-Aufenthalte bis eine Abschiebung folgte, schaffte wieder Aufmerksamkeit in den westlichen Medien. Dass Hochmoderne Luxus-Städte wie Dubai und Abu Dhabi nicht einfach so aus dem Boden sprießen können, wird doch klar sein, oder? Warum aber nicht die kalten Wintermonate überbrücken und einen kleinen Ausflug machen, um sich luxuriös und erfolgreich zu fühlen? Der Schein trübt. Mit der Hilfe von Tausenden "Gastarbeitern" wurde das höchste Gebäude der Welt errichtet, in dem sich nun Michelin-Restaurants und Hotelketten ihre Hände mit Geld einreiben. Die kritische Betrachtung der VAE kommt nicht nur deshalb, dass Menschenrechte extrem verletzt werden, sondern auch, dass es Menschen in solche Städte als Wohn- und Arbeitsort hinzieht. Städte, in der Wüste. Hauptsache Luxus, oder? Hauptsache man fühlt sich reich und schön und elegant und strahlt nach außen wie die Patek Philippe am Handgelenk. Wenn Menschen von ihren Dubai-Urlaub erzählen, zucke ich innerlich zusammen.
Wehmut
Ich befinde mich in der Zukunft, als ich um kurz vor 12 Uhr vor dem Gate stehe: Keiner da. Ich schaue auf meine Uhr. Die Zeitumstellung verpasste ich wohl. Ich muss noch eineinhalb Stunden warten. Der Kaffee von Costa schmeckt wässrig und teuer und ich tippe Gedanken in ein Word-Dokument. Etwas später sitze ich im Flugzeug. Es geht in die jordanische Hauptstadt Amman. Die Wüste Jordaniens sieht von oben aus wie die Adern eines Ahornblattes. Sie wirkt sauber, klar und trocken.
16 Uhr Amman, Jordanien. Die Grenzpolizisten fragen mich, warum ich nach Jordanien reise und erzählen mir, dass sie Glock-Waffen dabei hätten, als ich ihnen meinen österreichischen Pass zeige. Sie fragen mich, ob ich auch Waffen besitze. Ich gehe aus dem Flughafengebäude, am Horizont steigt grauer Rauch auf. Die Abenddämmerung wirkt zäh und doch ruhig. Man hört laute Knalle und Autotüren. Ich suche mir einen Schlafplatz und finde eine Steckdose für mein Handy neben dem Notausgang im Flughafengebäude. Das Übernachten am Flughafen ist eigentlich verboten. Ich schlafe schlecht und friere. Um kurz vor 3 klingelt mein Wecker. Um 5 Uhr sitze ich im Flugzeug. Neben mir beten Frauen und bitten Gott um Schutz für die Reise. Ich schaue aus dem Fenster. An den Scheiben haben sich Wassertropfen gebildet, die Luft wirkt frisch und kalt. In der Luft werden rote Wolkenfäden größer und malen Streifen an den Horizont.
Am Morgen des 27. Februar 2024 erreiche ich den Flughafen Wien. Ich schaue aus dem Fenster, es war ein sonniger Dienstagmorgen. Mein Bruder wird mich abholen, wir nehmen die U-Bahn. Ich sehe junge Leute mit Universitätsrucksäcken und wünsche mir, ich hätte auch etwas Festes auf Papier. Die Sonne scheint, es weht ein leichter Wind. Mein Bruder fragt mich, was ich nun machen will und ich kann ihm keine Antwort geben. Statt Dankbarkeit für die erlebten Momente und Erleichterung über den sicheren Verlauf der Reise zu empfinden, sieht man sich mit dem Berg der eigenen Erwartungen an die Zukunft konfrontiert. Versagensängste, Selbstzweifel und Unsicherheiten überschwemmen einen wie ein Tsunami die Küste. Keiner weiß, was zu tun ist, jeder ist verwirrt. Man steht nur da und schaut zu, wie die Wellen einen entgegenrollen.