Abendjazz

Die Frau schaute müde aus. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe. Sie trug ein schwarzes Leinenhemd, eine Strickjacke, die an den Nähten aufging, verwaschene braune Jeans und ein Paar dunkler Schuhe. Die Haare waren zu einem Zopf gebunden, sie trug etwas Lippenstift. Ihre Schritte waren schwer. Es schien, als hätte sie einen schweren Rucksack auf ihrem Rücken. Sie blickte zu Boden. Es war ein später Novembertag, die Frau war auf dem Weg heim. Einige Menschen kamen ihr entgegen, sie hatten es eilig. Ein Windstoß kam und ihre vorderen Haare berührten ihre Wangen. Sie brauchte ein Taschentuch, ihre Nase war etwas zu. Sie hustete. Die Frau wohnte im 22. Stock eines kalten Blockbaus in einem Außenbezirk der Stadt. Es gab einen Lift. Manchmal würde man für einige Minuten dort feststecken, er wurde im Zuge der Renovierung des Gebäudes nach einem Brand 1976 eingebaut. Sie wohnte seit 35 Jahren dort, schaute gerne Tierdokumentationen und las französische Romane. Ihr Ehemann war lange Zeit Fernfahrer. Sie hatten sich in einem Café kennengelernt, als er auf der Durchreise Richtung Süden war. Sie verstanden sich gut, er war freundlich zu ihr gewesen. Nach den Jahren ließ er sich gehen, er trank und schaute zu viel fern.

An jenem Abend trank sie eine Tasse Kamillentee. Sie schaltete das Radio ein. Das Jazz-Programm eines bekannten Pianisten lief. Sie mochte die Musik und erhöhte die Lautstärke. Draußen war es kalt und sie war froh, im Warmen zu sein. Sie ging ins Schlafzimmer, holte die Waffe aus ihrem Nachttisch und platzierte sie sich an ihrer Schläfe. Sie drückt ab. Die Hunde in der Nachbarschaft fangen an zu bellen, in der Wohnung läuft die Jazz-Musik weiter. Eine Blutlacke breitet sich aus, an der Tür hämmert ein junger Mann. Der Polizist steht mit dem Staatsanwalt vor ihrer Wohnungstür. "Wir wissen, dass sie unschuldig sind, Frau Mayer."

Regina Mader

Regina Mader

schreibt und liest gerne. In ihrer Freizeit geht sie wandern und laufen. Aufgrund ihres derzeitigen Wohnortes fällt die Zahl der potenziellen Bergtouren spärlich aus. Das Einzige, was erklimmt werden kann, ist der Bisamberg oder das Riesenrad. Letzteres ist mehr schlecht als recht. Dafür gibt es in Wien schöne Gebäude. Sie kreierte Salty Mountain, um Gedanken loszuwerden und Denkanstöße zu schaffen.

https://www.saltymountainclub.com/
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Der Jona-Komplex

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